Auszug aus Die Bewerbung

Roman von Manfred Zach, erschienen 1999 bei Klöpfer & Meyer, Tübingen, erhältlich im Buchhandel und Online-Buchhandel

Wiedergabe des 1. Kapitels:

1.

Artisten, die Teller auf Stöcken kreisen lassen, habe ich als Kind sehr bewundert. Wenn sie mit geschickten schnellen Griffen im Scheinwerferlicht flache Scheiben in funkelnde Sonnenräder verwandelten, kämpften stets Furcht und Hoffnung in mir, eine der biegsamen Stützen könnte sich ihrer Aufmerksamkeit entziehen und die Last einfach abschütteln.
   Als ich am Nachmittag des 6. Februar 1987, einem Freitag, eine dieser wohl nur noch auf dem Lande gezeigten Darbietungen in einem kleinen Zirkus am Rande der süddeutschen Provinzstadt Wirkahn sah, fühlte ich mich für kurze Zeit in jenen Zustand kindlicher Unentschiedenheit zurückversetzt. Wieder erschien mir das strahlende, dem Publikum zugewandte Lächeln des Jongleurs als mißbilligenswerte Versuchung eines Glücks, das ihm doch zweifellos zu wünschen war. Als es dann wirklich geschah, ein Teller zu Boden stürzte und der Artist sein Mißgeschick mit glattem Lächeln zu überspielen suchte, verließ ich ernüchtert ob meiner vorausahnenden Erinnerung das Zelt. Die wenigen Besucher klatschten gleichgültig Beifall. Sie erwarteten den Höhepunkt des Programms, eine Raubtierdressur.
   Nach dem Ausflug in die Vergangenheit, den ich, einem Plakatanschlag folgend, unvernünftigerweise unternommen hatte, machte ich mich auf den Weg, die Bewerbung abzugeben, derentwegen ich die Reise angetreten hatte. Ich beließ meinen Koffer im Schließfach des Bahnhofs und ging auf die Siedlung zu, die hinter dem Anger lag, auf dem der Zirkus gastierte.
   Es ist nicht verkehrt, sich auf diese Weise einen unvoreingenommenen Eindruck von der Stadt zu verschaffen, die mich eine Weile beschäftigen wird, dachte ich. Auch können die Beine einen Spaziergang vertragen. Die Anfahrt war weit und beschwerlich. Ich habe nicht gewußt, wie abseits Wirkahn liegt.
   Das Zelt hatte die Kälte des Winters ausgesperrt. Jetzt sprang sie mich an. Ich ließ den Blick über die grauen Häuserzeilen im Vordergrund zum bedrohlich nahen Gebirgshorizont schweifen. Vom schwachen Licht kaum mehr erreicht, lag der Stadtkörper da wie der bucklige Rist eines schlafenden Tieres. Wenig Markantes war zu erkennen. Nur die Kirchturmspitze zeichnete sich klar ab.
   Die Annäherung an den Ort, der vor zwei Monaten das Amt seines Bürgermeisters zur Wahl ausgeschrieben hatte, verlief nicht sehr verheißungsvoll. Wir Norddeutsche wähnen den Süden oft als Gottes heitere Gartenlaube. Die äußeren Bezirke Wirkahns aber waren düstere frühindustrielle Arbeiterquartiere. Aus geschwärzten Kaminen stieg dünner, scharf riechender Qualm. Die Rauchsäulen wahrten voneinander Abstand wie die an den Bushaltestellen frierenden Menschen, denen der Atem für ein mitteilendes Gespräch gefror.
   Ich versuchte es hier und da mit einem Gruß, bekam aber keine Antwort.
   Stadteinwärts verlor sich die steinerne Flächigkeit etwas. Die Straßen wurden belebter, auf einzelne Hauswände malten sich zaghafte Farben. Ich fühlte mich von ihnen erwärmt wie durch den Schein eines milden Feuers. Beschwingt folgte ich den ins Ortsinnere weisenden Schildern und widmete den Geschäftsauslagen flüchtige Aufmerksamkeit.
   Doch das Zentrum Wirkahns war nicht leicht zu erreichen. Straßensperren leiteten den Autoverkehr um, Holzplanken schlugen schmale Brücken über Schlünde aufgerissenen Asphalts. Weiträumig wurde die Kanalisation erneuert. Als brächen riesige Eingeweide aus dem Boden hervor, reihte sich Rohr an Rohr im gefrorenen Schlamm.
   Endlich, schon eine verhängnisvolle Verspätung befürchtend, erreichte ich die Hauptstraße. Pfeilgerade zerschnitt sie die Ortsmitte. Ein Einkaufszentrum aus schlierigem Beton, dessen Wände wie Burgwälle ausgriffen, begrenzte das eine, der Kirchturm, der mir zur Orientierung gedient hatte, das andere Ende. Dazwischen ein gezacktes Schnittmuster spitzgiebliger Fassaden, deren Gleichmaß nur durch schmiedeeiserne Wirtshausschilder unterbrochen wurde.
   Rund um die Kirche waren die Bauarbeiten schon abgeschlossen. Zu beiden Seiten des Eingangsportals standen mit Heidekraut bepflanzte Steintröge.
   Es war das erste Grün, das ich in Wirkahn sah. Nächst der Kirche erhob sich das Rathaus. Nach kurzem Zögern betrat ich es.

Auf der Treppe begegnete ich, ohne ihn zu erkennen, dem Mann, mit dem zu messen ich mich entschlossen hatte. Noch immer ist mir sein kantiger Schädel und der mißtrauische Blick seiner aus schrägem Winkel mich musternden Augen gewärtig. Ich grüßte und bekam auch hier keine Antwort.
   Im Flur entschied ich mich für die Tür mit dem Schild >Hauptamt<.
   Als ich eintrat, hoben zwei Beamte ruckartig die Köpfe und senkten sie wieder, nachdem sie die Wanduhr konsultiert hatten, die zehn Minuten vor vier zeigte.
   Ich nannte meinen Namen und sagte, ich sei gekommen, mich um die im Staatsanzeiger ausgeschriebene Stelle eines Bürgermeisters zu bewerben. Daraufhin reckten sie ihre Hälse und starrten einander entgeistert an.
   Na ja, sagte der eine, 's isch Fasnet.
   Ich verstehe Sie nicht, sagte ich.
   Wir Sie auch nicht. Aber das muß an Ihnen liegen.
   Sie lachten glucksend.
   Ich wiederholte meine Bewerbung und zog aus der Brieftasche den Zeitungsausschnitt mit der Stellenanzeige.
   Ich glaub bald gar, er meint es ernst, Karle, sagte der erste Beamte, jetzt doch beunruhigt. Fragend sah er seinen Kollegen an. Der straffte den Oberkörper.
   Guter Mann, begann er gönnerhaft und ordnete die vor ihm liegenden Papiere, wir machen schon mal ein Späßle mit, gell, aber alles hat seine Grenzen. Eine Bürgermeisterwahl is was Ernstes. Davon abgesehen, hätten Sie früher kommen müssen.
   Wieso?, fragte ich. Die Bewerbungsfrist läuft erst heute ab.
   Eben, sagte er. Vorbei ist sie, die Frist. Und wir zwei gehen jetzt heim.
   So hören Sie!, versetzte ich gereizt. Ich stehe hier während der Dienstzeit des zuständigen Amtes und bitte Sie, meine Bewerbung zu Protokoll zu nehmen!
   Zu Protokoll!, rief der erste Beamte. Hörst du, zu Protokoll. Es wird immer toller!
   Der, den er Karle genannt hatte, zwinkerte ihm zu. Paß auf, was ich mit dem mach, hieß das wohl.
   Haben Sie ein polizeiliches Führungszeugnis bei sich, mein Herr? fragte er förmlich.
   Nein, sagte ich, wozu auch. Für meine Bewerbung brauche ich kein Führungszeugnis, das wissen Sie.
   Wie ein angriffslustiger Stier senkte der Beamte den Kopf.
   Ich weiß vor allem eins, polterte er, daß net jeder daherkommen und erklären kann, er war gern unser neuer Schultes! Das war ja noch schöner! Woher sollen wir beispielsmäßig wissen, ob Sie überhaupt wählbar sind, he? Vielleicht sind Sie net mal Deutscher! Bei uns laufen genügend Ausländer rum, wo besser deutsch schwätzen wie Sie! Aber bei einer Wahl geht's nun mal um die Heimat, oder?
   Der erste Beamte nickte anerkennend.
   Hier ist mein Personalausweis, antwortete ich und versuchte, gelassen zu bleiben. Alles andere geht Sie nichts an, das ist Sache des Gemeindewahlausschusses.
   Wahlausschuß? Gott im Vatter, was soll das jetzt wieder? I werd noch verruckt!
   Er schlug auf den Tisch.
   Na ja, mischte sich sein Kollege vorsichtig ein, du weißt doch, dieses Gremium, bei dem auch Pfisterer seine Bewerbung abgegeben hat.
   Nix weiß ich!, bellte der andere. Kommt da einer und will mich belehren!
   Er dachte angestrengt nach.
   Wenn Sie so gut Bescheid wissen, setzte er wieder an, dann ist Ihnen doch auch bekannt, daß Sie Ihre Bewerbung dem Wahlausschuß persönlich vorlegen müssen? - Und der ist nicht da, das sag ich Ihnen gleich!
   Muß ich nicht, erwiderte ich störrisch. Mein Vater war selbst Kommunalbeamter in einer norddeutschen Stadt. Glauben Sie, ich kenne mich nicht aus? Dieses Theater reicht mir jetzt. Ich notiere auf einem Zettel meine Personalien und erkläre mit einem Satz, daß ich mich um den hiesigen Bürgermeisterposten bewerbe. Das genügt, so steht es im Gesetz.
   Gesetz?
   Gesetz!
   Eingeschüchtert schwiegen die Beamten. Ich hatte keine Ahnung, was im Wahlgesetz des Bundeslandes stehen mochte, in dem ich mich bewarb. Aber daß in Deutschland der Hinweis auf ein Gesetz immer verfängt, das wußte ich.
   Der Beamte Karle machte einen letzten Versuch.
   Es ist fünf vor vier, sagte er. Wir schließen freitags ällweil pünktlich. Praktisch sind wir schon fast nimmer da.
   Das Telefon klingelte. Der erste Beamte meldete sich und sagte:
   Herr Vogler, wir können jetzt grad net. Wir haben hier einen schwierigen Fall. Ich ruf Sie gleich zurück.
   Dann schauten mich beide mit einer gewissen Ergebenheit an.
   Ich riß eine Seite aus einem der Notizblöcke, die ich seit der Zeit, da ich für den Iowa Chronicle über gesellschaftliche Vorfalle einer nicht zu solchen Vorfällen neigenden Stadt zu berichten hatte, in großer Zahl mit mir führe.
   Während ich noch schrieb, betrat eine Frau das Zimmer. Sie balancierte einen Stapel Akten auf den Armen.
   Guten Tag!, rief ich erleichtert. Sie kommen wie gerufen. Würden Sie bitte diesen Zettel lesen? Er enthält die Erklärung, daß ich mich um das Amt des Bürgermeisters Ihrer Stadt bewerbe, trägt das heutige Datum und meine Unterschrift. Sehen Sie, daß ich meine Bewerbung jetzt auf den Schreibtisch dieses Herrn lege und daß die Uhr dabei genau zwei Minuten vor vier zeigt?
   Ich bin ja net blind, sagte die Frau und ließ die Akten auf den Tresen fallen. Ich grüßte und steckte den Kugelschreiber ein.
   Sie werden es bereuen!, rief der erste Beamte mit schriller Stimme. Unser Herr Pfisterer ist seit über zwanzig Jahren im Amt, und noch nie -
   Ach, laß doch, er wird schon merken, worauf er sich eingelassen hat, sagte sein Gegenüber, nahm voll Verachtung den Zettel und griff zum Telefon.
   Herr Vogler? Ich bin's. Grad war ein Herr Schröder da ...
   Ich trat auf den Flur. Durch die Tür drang Stimmengewirr.
   In der Tat, worauf habe ich mich da eingelassen?, dachte ich entmutigt, als ich wieder im Freien stand und die von aufziehenden Schneewolken durchnäßte Luft einsog. Ein Ort wie eine Festung. Ich hätte nicht herkommen sollen.
   Ich schloß die Augen: Endlose Weizenfelder im Wind. Ein goldenes Meer mit einem kleinen blauen Farmhaus darin.
   Der Weg zurück zum Bahnhof war mühsam. Es dunkelte rasch. Ich löste meinen Koffer aus und verlangte an der Rufsäule nach einem Taxi. Es dauerte lang, bis es vorfuhr.
   Ich bat den Fahrer, mir ein Hotel zu benennen.
   Er musterte meine Kleidung und brummte:
   In der Krone hat's ein paar Fremdenzimmer.
   Gut, seufzte ich. Zur Krone!
   Kaum im Wagen, drückte mich so heftige Müdigkeit gegen den Sitz, als wäre ich durch nassen Schnee gewatet oder über die höckrigen Berge gelaufen, die in der Ferne in ihren Nachtmantel gehüllt schliefen.

Copyright © Manfred Zach 1999. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Manfred Zach.

Kurze biographische Information zu Manfred Zach

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