Gedichte

von Hellmut Seiler

 

Afrika

Da will ich auch einmal hin! Tiere
Mit aufgerissenen Mäulern stehen
An der Straße; wenn man sie fragt,
Schnappen sie zu; sprechen können

Sie nicht, aber vielleicht nicken:
Mhm! Und Eier kriegt man da, gelt?
Die Jungen gehen an Ostern die Mädchen
Bespritzen, dann kriegen sie Eier!

Die Oma hat dort eine Ruine, die
Riegelt sie immer ab, denn die Polizei
Ist sehr gefährlich und räubert alles.
Kinder klaut man, daß sie um Geld

Betteln, gelt? Und die Leute wollen
Ins Gefängnis. Sie erleichtern sich unter
Flüchen im Stehen. Zerfledderte Scheine
Lodern nachts zwischen ihren Zähnen.

Gelt?

 

Balkan. Lappalien

Herbei, hervor! Aus der Nebelschwadentiefe
unvorhersehbarer Vergangenheit
aufgebrochen an die unergründliche Oberfläche,
das Getümmel der Planwagen,
wo am Ende unweigerlich die Geißeln knallen,
Schüsse fallen, bis, ja bis
Verordnet wird die Allgemeine Amnesie. Nun
war es Zeit: sie machten das Mögliche gründlich
unmöglich.

"Der Schoß ist fruchtbar noch", doch geht er ein:
Nichts kroch & niemand aus noch ein.
Im verletzten Mai betreut Madame, die schieläugige,
ketzerische Zauderin
die klebrige Blüte ihrer zugewachsenen Unschuld,
putzmunter, kummervoll.

Eine Heimat ist das! Für Schergen und Stockmeister!
Die fauchen mit ihren Trillerpfeifchen
und baumeln rasselnd mit ihrem Gemächte,
eingelullt von den Schwaden
der Gerüchteküche.

Von Karfreitag zu Gründonnerstag
bleibt nichts unvergessen. Nebel
lösen sich auf. Ein Wirrkopf allein
sauft die Pferdequelle leer.

 

Brennendes Lachen oder
Mens sana in ... flagranti

Sprich nicht durch die Blume:
Sie könnte dich verraten.
Verbeiß dir im Schlaf noch das Knirschen:
Es würde die Alpträume kosten:
Sie träfen plötzlich ein.
Deck den Hörer ab:
Es hört mehr als einer mit.
Laß im Bad Wasser rauschen:
Deinem Besucher zuliebe.

Die Jahre sind gezählt.

Warst du auf Tuchfühlung
mit dem Hungertuch, nagst du
nun am Neid. Das Vergnügen
macht dir Arbeit, die Zweifel
hegen, Neurosen hätscheln dich:
Ein Phantom jagt dir nach!
Die Sache geht dir auf den Grund:
Schau, wie liebt dich der Verrat!
Wie herrlich leuchtet er dir heim!

Du könntest freilich jetzt
kurzerhand die Neugier packen,
das Lachen schütteln, es anstecken
und abbrennen! Dich versprühen!

Unter den Händen gealtert
aber ist dir die Neugier, und wund
deine Verwunderung.
Vom aufgeschlitzten Himmel
hängen den Geigen
die gerissenen Saiten herab.
Halbherzige Andeutungen
verlieren sich in dir.

 

Die Mutter des Lyrikers

Aus und Dauer, Dauer im Aus heißt
Die Mutter des Lyrikers, das tickbehaftete
Herz der Lyrikmaschine: systolisch frühr
Aberwitziger Verszwang, abbr ungefährdet

Jetzt: Gebeugt über seine kostbaren, einzeln
Gefertigten Stücke, sonst keiner Macht,
Er Unikat ein jedes schweißt. Andern verheißt.
Jetzt be-nennt. Wie keiner kennt. Noch

Zu schwach zum Röhren der Rhythmus, doch
Willig ist und ruhig fließt der Reim. Und
Ist er nicht willig, brauch i brachiale!

Gebeugelt über köstbarlichen Einzelstücken,
Mit anhaltendem Atem er ihnen seinen heißen
Odem einflößt. Unter flatternden Stößen sie
Föten - futu-i! - zum Einlenken bewegt. Unter

Jubelrufen aus-stößt, Freudensprünge munter
Vollführt zwischen der Schädeldecke. Die
Scherben - hui!- kehrt er morgen fort. Auf
Und aus und ab und davon.

 

Galgenblumen

Glühen die Glocken, blubbert jetzt Beifall?
Wer an dem Strang zieht, hängt bald daran.
Laßt uns gemeinsam. An einem Faden.

Hauen wir doch endlich darüber! Spielen
wir Galgenmännchen! Du holst den Strang,
ich die Glocke. Das Pendel, der Klöppel

Hängt schief. Das zerfaserte Glockenseil
im Gepäck. Glühend pendelt die Erinnerung
an einem Faden. Spielen wir Galgenmann?

Sie klöppeln. Wiegen sich. Galgenblumen
wie Glocken im hohlwangigen Wind. Nicht
Priapus, kein ithyphallischer Satyr zeugte sie.

Sie aber wippen als ginge ein Schauer
über sie hinweg, als bedeckte sie fröstelnde
Haut. Ein schlingernder Geruch frischen

Männlichen Samens streut seine Fänge
in den Wind. In den Glocken knarren
die fleischgewordenen Klöppel.

 

Hätt’ ich was

Hätt’ ich was, wär’ ich wer.
Ließe mich von Fuß (bis Kopf)
neu. Mir Sohlen verordnen.
Einen anderen Tritt (ins Leere).

Wär’ ich wer, hätt’ ich neue
Einlagen, Krampfadern, Wein-
krämpfe, Substanzverluste.
Immer noch würde es brennen

Mir unter den Sohlen, hätt’ ich,
was ich nicht brauche. So aber
bin ich gezwungen, allein den
hochzuhalten, auf den ich nicht

Leicht verzichten kann.

 

Revolte der Unschuld

Packt eure Zeitvertreibschriften weg,
räumt die verstaubten Almanache zur Seite,
und die Verbrauchsanweisungen und
Es-ist-ein-Kreuz-mit-den-Rätseln,
Liederlichbücher und Kollidierkursbücher,
schmeißt sie fort!

Nachts, wenn keiner es auch nur vermutet,
steigen die zweckgebundenen Buchstaben
aus ihren Korsetten in langen Kolonnen herunter,
besinnen sich auf ihre störrische Unschuld,
ordnen sich neu und:
kaltäugig, wertfrei, unbesonnen
blicken sie euch stundenlang an.

Sagt mal: wollt ihr das riskieren?!

 

Doppelte Sieben

Aus Beatmungsmaschinen für Hunde
haben wir uns eine streunende Heimat,
ein heimliches Abrechnungskonto,
diese frostige Trosttruhe gebaut.

Der Erfinderlohn ist ein Grab:
für Wiedergänger, denen verborgen bleibt,
dass die Reise ins Jetzt-oder-Nie führt.

Von der Aufheizung unterkühlter Gefühle,
dem stolzen Abriß modriger Gemäuer,
übrig bleiben werden zuckende Schatten.

Breitgestreut die Mitgift, aber
Pandoras, hoffentlich.

Wir wollen nun erst recht:
selbstredend bleiben.
Was wir nie waren.

Die Abfindung - eine doppelte Herz-
kammer, in der unsere modrigen
Pässe immer ablaufen.

Keiner ist ein Held, weil er auferstanden
aus Ruinen. Unsere Herzen, Liebste,
schlagen den streunenden Pässen
ihre doppelten Böden ins Gesicht.

 

Variation über einen Mantel

Der Mantel des Schweigens, gebreitet
in der Dunkelheit, der schützende Mantel
des Zweifels, die gehütete Zunge;
Gogols beredter Mantel, die Schatten
der Zweige draußen; sie alle
geistern durch dieses alte, längst fällige
Haus. - "Wie geht´s, altes Haus?"

Ich schütze ihn vor: den verschlossenen,
verräterischen Mantel.
Umgebe damit die Dunkelheit.
Mich hütet die Zunge, es weiden die Worte,
lauter fremdartige Tiere, meine Zweifel.
Zweige geistern durch meinen Schatten:
Er fällt. Das Schweigen bricht mich.

 

Modi morendi

was ich darf
soll ich auch gleich wollen

ich will aber nicht
wollen müssen
was ich sowieso darf

können würd´ ich schon wollen
nur können müssen
will ich nicht

was ich darf
ist alles
was ich müssen will

ich will immer nur können
was ich nicht darf

nur kann ich nicht immer
was ich will

warum soll ich aber
nicht wollen
was ich sowieso kann?

kann ich aber
was ich nicht darf?

was ich soll
kann ich jedenfalls nicht

ich würde schon gern müssen
was ich will
nur darf ich nicht können

was ich sowieso muß

 

Alle Copyright © Hellmut Seiler 1998-2000.

Kurze biographische Information zu Hellmut Seiler

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