Rhodos, Juni 2000

Drei Gedichte von Hellmut Seiler

 

 

Singende Rohre

Rhodos, im Juni 2000

Es dringt aus dem Ausguß in den Küchen,
dem Abflußrohr in der Naßzelle, den Kanal
schächten überall wo du gehst und horchst:

ein Röhren, tief unter der Erde, aus den
knurrenden Eingeweiden der Stadt. Sind es
die aufgedrehten Turbomotoren beim Start?

Widerhall des Verkehrs und der Rufe der
Straßenhändler? Oder ist die Unterwelt
erfüllt von den Schreien Gefolterter? Ist’s

Nur der nahe Wellenschlag, das Geräusch
der Brandung untermischt von Stimmen
gewirr aus den Wohnungen und Tavernen?

Nein, das ist es nicht. Hört: eine Glocke ruft,
hundertfach knarren Bohlen unter Schritten
aus den Rüstkammern, Fanfaren, Trommel

wirbel verkünden unausweichliches Unheil.
Säbelgerassel, Schwertergeklirr auf Panzer
hemden, Geschützdonner, niederkrachende

Mauern. Schreie vermeintlicher Sieger, ein
schauriges Todesröcheln. Davon dröhnt da
der Boden, davon singen die Rohre ein Lied.

An vollkommen dunstfreien Tagen jedoch,
wenn unzählige Flüge den Himmel zerreißen,
gesellt sich das Gebrüll der Orakelstiere hinzu.

Zum Zeichen dass der Insel Gefahr droht.

 

Höhenflucht via Olymp

Getaucht in zerfetzte Strahlenbündel
eines Abends im Mai - der Olymp, kahl,
götterlos. Jedenfalls von oben betrachtet.

Unten der Sitz der Unsterblichen. Über
den Köpfen Mickey Mouse, flimmernd.

Von fern gleißt das Meer, die Brandung
hat man im Ohr. "Möchte wer was
einkaufen?" Im Himmel sind wir
unentrinnbar der Erde verhaftet.

Wolkengespinst, Worte huschen
dahin, der einzige Feste Punkt
zwischen Himmel & Erde.

Auf dem Fuß folgen ihnen
im Kopf die Taten.

 

Antike, dreimal lebendig

Im Neuen Ordenshospital, Rhodos-Stadt, im Juni 2000

I. Timarista und Krito
Zur Mutter hebt Krito die Hand, will sie fest
halten; ihr Kopf ist gesenkt, kann er tiefer sinken?
Timarista, bevor sie getrost eingeht in die Welt
der Schatten, versucht Krito, die Untröstbare,
zu trösten, hat den Fuß schon auswärts gestellt,
ihr Gehen stockt, unterbrochen im Übergang
aus dem einen Leben. Beständig feiern beide
immer währenden Abschied, bleiben atemlos
einander erhalten; trennen sich ununterbrochen,
Kopf und Hand zueinander erhoben.
II. Den linken Fuß vorgestreckt, sitzt die Nymphe
auf dem Felsen, nein, sie gleitet von ihm herab:
den Umhang locker über die Schultern gehängt,
rutscht sie seit vierundzwanzig Jahrhunderten
voller Koketterie immer ein Stückchen tiefer.
III. Zu einer ihrer Sandalen gebückt, stützt sich
Aphrodite auf einen kleinen Priapus mit hoch
gerecktem Glied. Ihr Schuhwerk ist noch
genauso lose; vom Betrachter überrascht,
wirft sie die schweren Haarlocken zurück;
und er steht mit verkniffener Miene,
zu ewiger Erektion verdammt.

 

Diese Gedichte entstanden während eines Studienaufenthalts auf der Insel Rhodos im Juni 2000. Copyright © Hellmut Seiler 2000.

Englische Übersetzung

Kurze biographische Information zu Hellmut Seiler

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