Die Diagnose

Eine Geschichte von Irmingard M. Schöne

Die Frau sitzt im Wartezimmer der Erste-Hilfe-Station eines Krankenhauses. Ihr Mann war heute, am letzten Urlaubstag in Florenz, gestürzt und hatte sich dabei den rechten Arm verletzt.
Dieser 3-tägige Aufenthalt ist ein Geschenk ihrer Mutter.
Zum 18. Hochzeitstag. Für den Mann und die Frau die erste Reise seit langem ohne ihren Sohn. Er würde ganz gut allein zurechtkommen. Die jüngere Schwester der Frau war von Mamas Idee begeistert.
Das sei doch toll! Wie früher! Sie jedenfalls wäre glücklich, wenn sie schon in dieser Situation wäre!

Die Frau wischt sich die Schweißperlen von der Stirn. Alles klebt an ihr. Jeans, T-Shirt, Turnschuhe. Sie ist noch unentschlossen. Soll sie nun die Italienerinnen bewundern oder belächeln, die ungeachtet der Hitze, perfekt geschminkt, soviel Wert auf modische Kleidung legen? Oder die Italiener, die unnachahmlich lässig Anzug, Schuhe und nicht zuletzt sich selbst zur Schau tragen? Ein wenig mehr Chic in Zukunft würde nichts schaden.
Ihr Mann zieht gleich am ersten Tag kurze Hosen, weiße Sportsocken und Sandalen an. Er sei erstens im Urlaub, zweitens im Süden und drittens sei Hochsommer.
Optisch und verbal derart verschreckt, zieht die Frau es vor, ihr tailliertes Kleid und die Plateauschuhe zunächst im Koffer zu belassen. Das Schweigen während des Frühstücks weitet sich auf der Fahrt nach Siena aus. Bei ihrem einzigen Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen: "die Eltern von Gianna Nannini besitzen in Siena eine Bäckerei," setzt er gerade zum Überholen an.
Die Frau sieht neben sich eine Zeitung mit dem heutigen Datum. 2. August. Genau vor einem Jahr wurde eine ihrer Freundinnen geschieden. Während des jahrelangen Zusammenlebens auseinandergelebt. Trotzdem fiel auch deren Reaktion auf die Toskana-Fahrt überschwenglich aus. Das sei doch toll! Wie früher! Sie jedenfalls wäre glücklich, wenn sie noch in dieser Situation wäre!
Am zweiten Tag besichtigen sie den Dom und den David von Michelangelo. Mehr als ein "nicht schlecht" kann sie ihrem Mann nicht entlocken. Daraufhin geht sie ohne ihn in die Uffizien. Ein Museumswärter sagt "bella donna" zu ihr. Weil sie weiß, mit welchem Attribut ihr Mann diesen Signore versehen würde, verschweigt sie das kleine Kompliment. Abends trinken sie zusammen eine Flasche Wein und schlafen miteinander. Die Frau gibt sich Mühe, so glücklich zu sein wie ihre Schwester und eine ihrer Freundinnen in dieser Situation gewesen wären.
Die Frau schaut zur Tür, hinter der ihr Mann vor einer Ewigkeit verschwunden war. Sie bereut den Wimpernschlag der Schadenfreude über seinen Sturz und bezahlt ihn mit kleinen, heißen Wellen der Scham, die sie noch mehr schwitzen und auf ihrem Stuhl zusammensinken lassen.
"Das ging ja schnell", hört sie ihren Mann sagen. "Mein Arm ist nicht gebrochen. Nur angeknackst."
Sie betrachtet den Verband. Wiederholt unhörbar: Nur angeknackst. Nicht gebrochen.
Die Frau sitzt am Steuer. Im taillierten Kleid und mit Plateauschuhen. Im Autoradio rockt Gianna Nannini. "Starke Stimme - die Bäckerstochter!" sagt der Mann auf dem Beifahrersitz. Die Frau lächelt und setzt zum Überholen an.
   

Aus Ohne Träume wäre das Leben ein Alptraum (1998)

Copyright © Irmingard M. Schöne 1998.

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