Vorbemerkung

Seitdem Rudolf Großmann 1923 in den Veröffentlichungen des Ibero-Amerikanischen Instituts eine Anthologie über Katalanische Lyrik der Gegenwart vorlegte, ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen, und vor nunmehr achtzig Jahren stellte Johannes Fastenrath im Zeichen von Mistrals und Verdaguers Erfolg Catalanische Troubadoure der Gegenwart vor. Die katalanische Literatur ist dem Bewußtsein des deutschen Lesers entschwunden. Aber auch die deutsche Literaturwissenschaft ignoriert seit Jahrzehnten diese Zone der Romania. Weder in Karl Voßlers Aufsätzen über Schriftsteller der Südlichen Romania, noch in Hugo Friedrichs Struktur der modernen Lyrik stößt man auf den Namen eines katalanischen Dichters, und es ist zumindest befremdend, daß selbst Ernst Robert Curtius in seinem Standardwerk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter weder R. Llull noch A. March zitiert. Auch die sonst so übersetzungsfreudigen deutschen Literaten dieses Jahrhunderts haben nichts für die Verbreitung der katalanischen Lyrik getan. Ohne sich darüber im klaren zu sein, sind die deutschen Literaturkonsumenten Opfer des nach dem Bürgerkrieg von der Madrider Regierung über Katalonien verhängten Kulturembargos und der systematischen Unterdrückung der katalanischen Sprache geworden.

Die vorliegende Anthologie ist das Ergebnis eines Zufalls. Einer der Herausgeber ist, dank der Initiative von Eugenio Coseriu, seit einigen Jahren als Lektor für katalanische Sprache und Literatur an der Universität Tübingen tätig. Dort lernte ihn der deutsche Mitherausgeber kennen. Bei einem Gespräch mit Hans-Erich Nossack in Frankfurt ergab sich schließlich eine konkrete Perspektive für die Veröffentlichung der vorliegenden Anthologie. Ihm, dem damaligen Vizepräsidenten der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, gilt, neben den Autoren und Verlagen, die uns ermächtigten, die katalanischen Texte abzudrucken und zu übersetzen, unser ganz besonderer Dank.

Wir beschränkten uns bei unserer Auswahl bewußt auf siebenundzwanzig Gedichte und elf Autoren. Die Anthologie will keine Summa, sondern ein Anfang sein. Bei den Übertragungen war größtmögliche Texttreue oberstes Gebot, auf die metrische Struktur und die Reimschemata der Originale wurde verzichtet. Die Übersetzer hoffen trotzdem, daß der Ton der Dichtung wenigstens annähernd getroffen ist. Die Anmerkungen wollen einige inhaltlich schwer verständliche Stellen erklären, kurze Hinweise zu den Autoren und eine knappe Bibliographie sollen künftigen Katalanisten eine erste Orientierung ermöglichen.

Regensburg und Tübingen, Sommer 1970