Dritter Freiherzbrief

   

Vom Anfang

   

Volker Friebel

 

»Also, Kinder«, hub der alte Mann an zu sprechen, »es ist Bettzeit. Soll ich euch noch eine Gutenachtgeschichte erzählen?«

»Ja, ja«, schrien die Kobolde, das aber waren seine allnächtlichen Dämmergedanken. Sie unterbrachen ihre Prügeleien, legten die blutverschmierten Keulen beiseite und bleckten die Zähne.

»Gut«, sagte der alte Mann, »dann erzähle ich euch von der Erschaffung der Welt. Und die Geschichte geht so:

Am Anfang, da schwebte in der Mitte des Raumes ein Ei. Das schwebte ein Weilchen vor sich hin – aber dann begann es in ihm sachte zu klopfen, und mit der Zeit wurde das immer stärker und drängender. Und eines schönen Maientages sprang doch tatsächlich die Schale des Eis weit auf und allerlei Wesen krochen heraus. Schmetterlinge gab es da, Raupen, Ameisen, Bären, Vögel, Weinbergschnecken, Tintenfische, Wale, Eidechsen – sogar Adam und Eva waren dabei. Die schüttelten sich erst einmal und rieben sich die Augen. Sie gähnten und wuschen sich schnell am kühlen Bach, der auch aus dem Ei herausgeströmt war und noch auf der Suche nach einem richtigen Bachbett in der Gegend herumschlängelte. Tja, und als all die Samen vom Wind verweht waren und die Bäume die richtige Größe erreicht hatten, da krochen Adam und Eva hinauf, machten es sich dort richtig gemütlich – und deshalb heißt es ja auch, dass das Menschengeschlecht von den Bäumen abstammt.«

»Vom Meer, vom Meer«, riefen da die Nachtkobolde und ließen ihre Keulen dumpf auf dem Boden tanzen.

»Das stimmt nicht, das ist bloß so ein Ammenmärchen«, sagte bedächtig der Mann. »Denn das Meer, das konnte es damals ja noch gar nicht geben. Das braucht doch ziemlich viel Zeit, bis so viel Wasser das Bächlein hinuntergeströmt ist, dass sich daraus ein ganzes Meer gebildet hat. Denn in so ein richtiges ausgewachsenes Meer, da geht doch sehr, sehr viel Wasser hinein.«

»Wieviel Wasser denn?« fragte ein besonders spitzfindiger Koboldjunge.

»Ganz, ganz viel Wasser, ungeheuer viel Wasser, und dann noch 27.819 Komma 87 Liter dazu, wenn du es völlig genau wissen willst«, nickte der alte Mann ihm zu und lächelte mild.

»Aber woher kam dann das Ei?« fragte ein Koboldmädchen.

»Von Gott, ist doch klar«, antwortete ihm gleich ein anderes. »Unsere Dompteurin hat es uns heute im Kindergarten erklärt.«

»Und woher kommt Gott?« »Und welcher Gott überhaupt? – Deiner oder meiner?« »Meiner, meiner!« »Nein, meiner!« Die Schreie der Dämmerkobolde gellten durch den Raum, Pfiffe tönten, die Keulen begannen wieder den Rhythmus der Herzen zu schlagen und fast wäre so etwas wie Unruhe ausgebrochen, da legte der alte Mann einen Finger auf den Mund, zischte sanft und brachte sie sogleich wieder zur Ruhe, bis auf die Keulen.

»Das Ei entstand einfach von selbst«, sagte der Mann. »Es war eine spontane Schwankung im Raum-Zeit-Kontinuum, das es damals allerdings noch gar nicht gab, sozusagen eine in die Vergangenheit gerichtete irrationale Fluktuation.«

Ein Weilchen war Stille, nur der Rhythmus der Keulen gab eine Richtung vor. Dann meinte ein Koboldjunge spitz: »Aber Eier, die werden doch von Hühnern gelegt!« Mehrere seiner Genossen nickten ihm zu, andere versuchten das einzuschränken oder noch weiter auf diese Spitze zu treiben: »Von Hennen, von Hennen!«, aber der alte Mann achtete auf alles dies nicht.

»Das lässt sich auch sprachanalytisch beweisen«, sagte er nämlich derweilen sanft, »streng wissenschaftlich. Denn wenn nichts ist, vor dem Anfang also, das ist doch wie bei den Zahlen die Null.« Die Kobolde nickten. »Und nach der Null kommt die Eins, und aus der Eins entsteht die Zwei, und aus der Zwei entstehen die tausend Dinge der Welt.« Ein kleines Koboldmädchen stand auf und versuchte aus dem Buch vom rechten Weg und der rechten Gesinnung zu zitieren, das sie heute in der Schule durchgenommen hatten – aber die anderen johlten nur und stießen sie an, und als sie einer fest an den Beinen zog, fiel sie um, irgendwie einfach nach hinten, und verschwand in der Menge.

»Jedenfalls ist ‘Ei’ doch eindeutig kürzer als ‘Eins’«, sagte der alte Mann. »Und das heißt doch, dass das Ei schon vor der Eins dagewesen sein muss. Das Ei steht also zwischen der Null und dem unmittelbaren Anfang. Und das heißt, dass vor ihm nichts sein konnte und dass es zuerst da war.«

»Aber da gibt es doch auch Zahlen mit Kommas«, warf schüchtern ein Koboldjunge ein, »Null Komma irgendwas – das kann doch noch früher sein als das Ei!« »Oder Minuszahlen«, riefen gleich andere. »Aber solche komplizierten Zahlen, die gab es damals noch gar nicht« – der alte Mann tat diese Einwände mit einer lässigen Handbewegung ab –, »die entstanden erst später; tatsächlich sind die ersten von ihnen damals auch mit aus dem Ei gekrochen. Der Anfang ist immer einfach. Kompliziert wird es später.«

»Aber ‘E’ ist noch kürzer als ‘Ei’«, sagte ein Koboldmädchen und schaute den alten Mann keck an.

»Schon, aber ‘E’ bedeutet nichts, das ist bloss ein Buchstabe«, versuchte der alte Mann sich herauszuwinden. »Stimmt nicht, stimmt nicht!« dröhnte es unbarmherzig aus allen Ecken und Enden des Raumes. »‘E’ ist mittelhochdeutsch und bedeutet ‘Ehe’«, sagte das Mädchen gespreizt. »Das Wort wurde dann nur aufgebläht, damit es wichtiger aussieht«, setzte ein Koboldjunge dazu.

»Na, aber wenn die Ehe schon vor dem Ei da war«, gab der alte Mann zu bedenken, »da muss es also doch irgendwo eine Henne gegeben haben, und einen Hahn, die dann das Ei bekommen haben. Aber das ist dann wirklich der Anfang.«

»Ja, aber wo kommen denn die dann her?« fragte ein weiterer Kobold.

»Die Henne kenn ich, das ist die Erna, die ist neulich aus dem Hühnergarten davongeflattert«, sagte ein Däumlingskobold wichtig, der es sich manchmal tagsüber in den Ohren der Menschen bequem machte.

»Also fehlt nur noch der Hahn – und der wird sich schon auch einfinden, wenn eine Henne da ist«, sagte der alte Mann und sah auf die Uhr. »Das also war die Geschichte vom Anfang. Und jetzt aber ist es der Anfang der Nacht, und die Sandfeen sind schon aus dem Ei der Dunkelheit sachte herausgekrochen, und gleich werdet ihr spüren, wie sie den Sand in euere Äuglein streuen. Und so wünsche ich euch eine gute Nacht!«

Der alte Mann verbeugte sich leicht vor den Dämmerkobolden. Dann erhob er sich und ging langsam zur Türe. Er nahm sich die Maske ab und warf sie weit in den Raum. Er schloss die Tür hinter sich und ging allein durch die stärker werdende Dämmerung. Die Keulen der Kinder gaben ihm den Takt seiner Schritte.

 

© Volker Friebel 2001. 

 

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