Rudolf Stirn

 

Ein Auszug aus

Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich

Capriccio

 

 

21

 

Ich vermisse Gemüt, sagt Ich.

Gestohlen? fragt Nichtich.

Irgendwie vielleicht schon.

Erstatte Anzeige gegen Unbekannt. Doch bringen wird es nichts.

Gemüt als Rückkehrer, fast amüsant. Eine andere Variante.

Aus der Emigration kommt Gemüt nicht mehr zurück.

Vielleicht aus Kasachstan? Spätaussiedler.

Frühling läßt sein blaues Band...

Laß Eduard aus dem Spiel. Seit Kleiner hier herumschleicht, ist er ganz wortkarg geworden.

Kleiner ist auch unausstehlich. Er setzt Eduard unter Druck.

Wieso das?

Er will ihm den Namen abhandeln.

Und?

Vielleicht als neue Startchance.

Warum nicht?

Eduard will aber nicht. Er sagt, Kleiner verstehe nichts von seiner Dichtung.

Eine kluge, aber unbewiesene Behauptung.

Aber nicht ganz unlogisch.

Warum das?

Kleiners Schriften, also wenn er wirklich Marx ist, wurden alle von seinem Freund Engels verfaßt. Er hat ihnen nur den Namen gegeben.

So ein Schmu.

Nein, ein Schmä.

Das ist mir zu österreichisch.

Also, Eduard vermutet irgend etwas. Sein Dichterinstinkt hat Verdacht geschöpft.

Erstaunlich hellsichtig.

Von solchen Maskeraden versteht Eduard ja einiges.

Er durchschaut es nicht, aber irgend etwas verunsichert sein Gemüt.

Da sind wir wieder beim Thema. Eduard vermißt Gemüt bei Kleiner.

Er auch?

Wieso auch?

Du hast doch Gemüt vermißt.

Aber nicht bei Kleiner.

Bei Kleiner nicht, wo dann?

Überhaupt. Bei Kleiner such ich gar nicht.

Überhaupt? Das verstehe wer will. Der Kanzler hat doch Gemüt.

Er kehrt es hervor. Gleichsam ein Kehrausgemüt.

Nun tust du ihm unrecht.

Gemütslagen schätzt er gut ein, besonders beim Volk.

Das ist etwas anderes.

Nur neuerdings verschätzt er sich öfters.

Weil nirgendwo mehr Gemüt ist. Es fehlt die Grundlage.

Zweifellos alarmierend.

Vielleicht beginnt auch der Kanzler Gemüt zu vermissen.

Nur wo ist es hin?

Es ist eben hin.

Armer Kanzler.

An dieser Misere ist er mitschuldig. Streit treibt die Leute aus dem Haus.

Ja, sie sind ganz aus dem Häuschen.

Dabei ist das Haus noch gar nicht fertig.

Welches meinst du?

Europa.

Da allerdings haben sie noch nichts zu suchen.

Wieso nicht?

Gefährliche Baustelle.

Aber wo sollen sie spielen?

Die Kinder?

Nein, die Leute.

Sag du's.

Ich meine: das Spiel ist aus.

So pessimistisch ist der Kanzler nie.

Die Zeiten sind ungemütlich.

Oder dein Gemüt ist krank.

Jetzt wirst du gemein.

Warst du schon bei Seehofer?

Wieso bei dem?

Er ist Arzt geworden.

Arzt?

Für Nerven- und Gemütskrankheiten.

Aber sicher ohne Kassenzulassung.

Macht nichts mehr aus heutzutage. Gemüt können sich die Kassen nimmer leisten.

Auch die Leute nicht.

Das deutsche Gemüt war immer heikel.

Wieso?

Denk nur an Wilhelm Busch.

Weil Böll ihn nicht leiden konnte?

Böll hatte Gemüt. Doch es wurde bald für staatsgefährdend erachtet.

Er trug schwer daran.

Gemütskrank?

Kettenraucher.

Also brauchte er Dunst. Frühling läßt sein blaues Band.

Und jetzt: Das deutsche Gemüt ganz abschreiben?

Wird der Kanzler niemals dulden. Solange die CSU...

Ja, ja. Und die FDP?

Die hat Graf Lambsdorff.

Verstehe.

Gemüt ist eben Gemüt.

Und Joschka?

Mein Gott, der trinkt neuerdings Mineralwasser.

Und er trauert auch.

Richtig außerirdisch.

Undeutsch?

Italienisch.

Das deutsche Gemüt saß immer eher in Italien. Denk an die Kaiserzüge.

Damals hatten wir noch Gemüt.

Deutscher Rohstoff, exporttauglich.

Große Vorräte. Doch sie sind erschöpft.

Importieren wir also?

Von wo?

Kasachstan.

Na, na.

Wart's ab.

 

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

© Rudolf Stirn 1997.

 

 

Biographisches zu Rudolf Stirn

 

Auszug aus Der Inselkönig

 

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